
Neue Bundesregierung Was in Ostdeutschland von Merz erwartet wird
In Ostdeutschland fuhr die AfD bei der Bundestagswahl ihre besten Ergebnisse ein. Dort stehen im kommenden Jahr zwei Landtagswahlen vor der Tür. Der Druck auf die CDU ist groß - vor Ort, aber auch im Bund.
Friedrich Merz sei der "typische Westdeutsche", sagt die Chemnitzer CDU-Bundestagsabgeordnete Nora Seitz mit einem Lächeln auf den Lippen. "Oder wie wir Ossis liebevoll sagen würden: Ein Wessi."
Es ist kurz vor sieben Uhr morgens. Die 40-Jährige steht in ihrem provisorischen Abgeordnetenbüro in Berlin-Mitte und plant ihren Tag, bevor sie schnell in die Sitzung ihrer Fraktion muss. Die CDU soll noch rasch eingeschworen werden, bevor sich Friedrich Merz zum Kanzler wählen lässt und damit kurze Zeit später, auch zur Überraschung von Nora Seitz, im ersten Wahlgang scheitern wird.
Vertrauensdefizit im Osten
Friedrich Merz konnte lange auf den Rückenwind aus den Ost-Verbänden seiner Partei bauen. Eine Unterstützung, die seit dem Wahlkampf aber zu bröckeln scheint. Sondervermögen, Aufrüstung - da habe Merz "sicherlich keine so ostdeutschen Positionen vertreten", meint die Chemnitzer Bundestagsabgeordnete. Der Wahlkampf sei schwierig gewesen, Merz' Vertrauensdefizit im Osten mittlerweile "riesig, riesengroß".
Dass in Merz‘ Kabinett aufseiten der CDU nur ein Ministerposten an eine Ostdeutsche ging, die zudem seit Jahren nicht mehr vor Ort lebt, kritisierten einige Ortsverbände prompt. Auch Marco Tullner, Kreisvorsitzender der CDU in Halle und früherer Bildungsminister von Sachsen-Anhalt, sieht die Personalie um die neue Wirtschaftsministerin Katherina Reiche kritisch. Auch wenn, wie Tullner beschwichtigt, er keine Ost-Karte spielen wolle. Was in Bayern selbstverständlich wäre, sollte doch auch für den Osten gelten: "Und da finde ich, hätten wir mehr erwarten können."
Kritik aus Sachsen-Anhalt
Was die Akzeptanz politischer Eliten angehe, hätten die Ergebnisse aus der letzten Bundestagswahl eine klare Sprache gesprochen. "Da hätte ich mir mir Sensibilität gewünscht, zumindest auf der CDU-Seite", meint Tullner und lobt sogleich die Ernennung des SPD-Politikers Carsten Schneider, dem ehemaligen Ost-Beauftragten der Bundesregierung, zum Umweltminister. So etwas sehe Tullner auf der CDU Seite leider nicht.
Friedrich Merz hätte bei ihm deshalb nicht nur den Kredit an Glaubwürdigkeit ausgereizt, sondern mittlerweile den "Dispo erreicht". Weil Koalitionsvertrag und personelle Repräsentanz für ihn nur "so semi" seien, erwarten er und seine Kollegen aus Sachsen-Anhalt zumindest bei den Inhalten nun eine klare Priorität auf den Osten. "Und das werden wir gegebenfalls auch einfordern."
Wenig ostdeutsche Abgeordnete bei SPD und CDU
Anna Aeikens, neu gewählte CDU-Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt, kann die Kritik an den Posten in Merz’ Kabinett dagegen weniger verstehen. Aus Sachsen-Anhalt kämen insgesamt auch nur vier CDU-Abgeordnete. Und einer davon, Tino Sorge, sei in seinem Metier nun Parlamentarischer Staatssekretär geworden. Am Ende müsse es ja auch nach Kompetenz gehen.
Aeikens spricht dabei ein Problem an, das längerfristige Folgen haben kann. Denn tatsächlich ist der Anteil ostdeutscher Abgeordneter in Regierungsparteien kontinuierlich gesunken. Waren unter Angela Merkel zuletzt 15 Prozent ostdeutsch, schrumpfte ihr Anteil in der Regierung Olaf Scholz auf 13,2 Prozent. Unter Friedrich Merz kommen nur noch 10,7 Prozent der Abgeordneten aus CDU und SPD aus dem Osten.
Die AfD repräsentiert Ostdeutschland im Bundestag
Im Bundestag repräsentiert mittlerweile vor allem die AfD Ostdeutschland, wenn es nach der Herkunft der Abgeordneten geht. 42,9 Prozent der ostdeutschen Abgeordneten - Berlin nicht mitgerechnet - sitzen in der AfD-Fraktion.
Diese fehlende Repräsentanz könne vor Ort eine Art Kaskade entwickeln, warnt der Politikwissenschaftler Janek Treiber von der TU Dresden. Gelder aus der Parteienfinanzierung könnten verloren gehen, weil die Wahlergebnisse schlechter sind. "Büros könnten verloren gehen, weil die Abgeordnete nicht mehr da sind." Das betreffe auch Mitarbeiter, weil es wiederum weniger Abgeordnete und Minister gebe. Es bestünde die Gefahr, dass Parteien wie die CDU vor Ort "organisatorisch degenerieren".
Ostdeutschland spiele in der künftigen Bundesregierung zwar eine Rolle, ist Treiber überzeugt. "Aber eben keine überragend große Rolle. Und auch keine, die dem Problemdruck, den die dortigen Landesverbände beschreiben, angemessen wäre."
Mehr Raum für ostdeutsche Themen
Einen Druck, den vermutlich jeder ostdeutsche Abgeordnete spürt. Auch Nora Seitz aus Chemnitz. Immer wieder warnt sie davor, dass der Osten nicht "immer nur als die verlängerte Werkbank des Westen" gesehen werden dürfe.
Von der neuen Regierung erhofft sich Seitz deshalb auch "Raum", um ostdeutsche Themen setzen und bearbeiten zu können. Da seien der Transformationsprozess rund um die Braunkohle in Sachsen, aber auch VW und ganz speziell für ihren Wahlkreis: die fehlende ICE-Anbindung für Chemnitz. Damit auch für Menschen im Osten "gute Politik in Berlin" gemacht werde: "Dass man auf sie schaut."
Auch die CDU-Politikerin Anna Aeikens fordert von der Bundesregierung Politik, die vor Ort ankommt. Sie nehme ein gestörtes Gerechtigkeitsempfinden bei den Menschen wahr: "Wer bekommt was für welche Leistung?" Und das müsse aufgelöst werden. Auch die Versorgung im ländlichen Raum müsse besser werden.
Die Fleischermeisterin aus Chemnitz Nora Seitz mahnt in Hinblick auf ihre Handwerks-Innung immer wieder: "Achtung Freunde! Passt auf, dass ihr nicht über den Osten drüber fahrt." Was das für den politischen Betrieb in Berlin bedeuten würde, weiß Seitz schnell zu beantworten: Wer politisch über den Osten "drüber fahre", stärke die AfD. So, dass es am Ende abseits der Partei, die aktuell juristisch gegen ihre Einstufung als "gesichert rechtsextremistisch" vorgeht, vielleicht gar keine andere politische Vertretung mehr vor Ort geben könnte.